Black Friday
Black Friday ist ein faszinierendes Phänomen, gerade weil seine Entstehung so wenig glamourös war. In den 1960er-Jahren in Philadelphia stand der Begriff „Black Friday“ für das genaue Gegenteil von Shoppingfreude: überlastete Strassen, überfüllte Geschäfte, schlechte Laune, gestresste Ladenbesitzer und Polizisten, die am liebsten Urlaub eingereicht hätten. Der Name war ein Ausdruck des Chaos — ein schwarzer Tag im Kalender der Ordnungskräfte, nicht im Kalender der Schnäppchenjäger.
Dann kam die zweite Erzählung. Jene, die nichts mit der Realität zu tun hatte, aber dafür hervorragend funktionierte: Händler würden das ganze Jahr „rote Zahlen“ schreiben und erst am Black Friday endlich „schwarze Zahlen“ erreichen — daher der Name. Eine romantisierte Legende, die sich gut anfühlte und deshalb irgendwann als Wahrheit akzeptiert wurde. Marketing hat selten den Auftrag, korrekt zu sein. Nur den Auftrag, hängen zu bleiben.
Mit der Digitalisierung begann der globale Siegeszug. Aus einem einzelnen Tag wurde ein Ereignis, aus einem Ereignis ein Ritual. Black Friday breitete sich zuerst in Nordamerika aus, dann in Europa, später überall dort, wo Rabattpsychologie den Verbrauchern schmeicheln konnte. Ein Tag wurde eine Woche, eine Woche ein November, und die Erwartungshaltung änderte sich: Nicht mehr die Qualität des Produkts sollte überzeugen, sondern die Höhe der Prozentzahl.
Die Mechanik dahinter ist elegant — und entlarvend. Ein Rabatt ist selten nur mathematisch. Er ist emotional. Der Mensch reagiert nicht auf Zahlen, sondern auf Gefühle, die Zahlen auslösen. −60 % bedeutet nicht „günstiger“, sondern „Chance“. Ein Countdown löst nicht Information aus, sondern Dringlichkeit. Shopping wird nicht von Bedarf gesteuert, sondern von der Angst, etwas zu verpassen. Black Friday ist weniger ein Markttag als ein psychologisches Experiment im Grossformat.
Natürlich ist es einfach, darüber zu lächeln. Wir alle sind schon einmal einer Rabattlogik erlegen, von der wir wussten, dass sie uns gerade manipuliert — und haben trotzdem gekauft. So funktioniert das menschliche Gehirn. Schnäppchen sind Dopamin, keine Excel-Tabellen. Was zählt, ist nicht, ob wir etwas gebraucht haben, sondern ob wir das Gefühl hatten, clever gewesen zu sein.
Und dennoch: Je lauter der Black Friday geworden ist, desto stärker hat sich leise eine Gegenrichtung gebildet. Keine Anti-Shopping-Bewegung, eher ein Reflex der Erschöpfung. Menschen, die sich fragen, ob jeder Kauf dringend sein muss. Ob Rabatte wirklich Freiheit sind — oder einfach nur Zeitdruck in glänzender Verpackung. Ob der Wert eines Gegenstands tatsächlich proportional zur Höhe des Preisnachlasses ist. Ob „billiger“ wirklich das ist, was man sucht.
Diese leise Gegenbewegung ist nicht moralisch und nicht belehrend. Sie ist schlicht: bewusster. Sie fragt nicht „Wie viel spare ich?“, sondern „Wie viel nützt es?“. Sie trennt Kaufrausch von Kaufentscheidung. Und sie entdeckt wieder, dass der Wert eines Produkts nicht nur in der Kasse liegt, sondern im Alltag — in dem, was ein Gegenstand leistet, begleitet, aushält und bedeutet.
Black Friday wird bleiben. Er wird weiterhin laut sein, bunt, dramatisch und für viele auch unterhaltsam. Er wird weiterhin Emotionen triggern und Kaufentscheidungen beschleunigen. Dagegen gibt es nichts einzuwenden — solange man weiss, woran man teilnimmt.
Aber direkt neben diesem Lärm existiert ein anderer Gedanke: dass Konsum nicht falsch ist, solange er bewusst passiert. Dass Kaufen kein Sprint sein muss. Dass der Preis nicht die ganze Geschichte erzählt. Dass Dinge manchmal wertvoller sind, wenn sie Zeit haben — statt Timer.
In dieser leisen Erkenntnis liegt vielleicht die eigentliche Entwicklung unserer Gegenwart. Nicht ein Aufstand gegen den Black Friday, sondern ein Aufstehen für eine Haltung: Man darf kaufen. Man darf nicht kaufen. Beides ist richtig — wenn man es für sich entscheidet, und nicht, weil eine Prozentzahl lauter war als der eigene Gedanke.
Und manchmal — mitten im roten Rabattspektakel — genügt ein stilles „Ich überlege zuerst“, um sich freier zu fühlen als jede −70%-Anzeige es je könnte.
Ihre Belinda Kurmann