Der geplatzte Traum vom freien Internet
Wie der Traum vom freien Internet zerplatzte
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Bauchliebe.ch - von Belinda Kurmann, Gründerin und Inhaberin

In den Anfangsjahren des Internets herrschte eine beinahe grenzenlose Euphorie. Die neue digitale Infrastruktur versprach Offenheit, Dezentralität und eine faire Verteilung von Wissen. Forschende, Idealisten und frühe Nutzer sahen im Internet ein Werkzeug, das nationale Grenzen überwinden, Machtstrukturen aufbrechen und den Zugang zu Informationen demokratisieren könnte. Die Vorstellung war ebenso einfach wie revolutionär: ein globaler Raum, in dem alle Menschen unabhängig von Herkunft, Status oder Einkommen dieselben Chancen haben, sich zu informieren und auszutauschen.
Mit der rasanten Verbreitung des Internets begann sich diese Vision jedoch zu verändern. Heute ist klar erkennbar, dass das Netz nie so frei war, wie es in der öffentlichen Wahrnehmung erschien. Staatliche Institutionen, Geheimdienste, grosse Technologieunternehmen und militärische Akteure hatten stets Einfluss auf die Entwicklung der Infrastruktur. Die Utopie eines völlig freien, unregulierten digitalen Raums war daher schon zu Beginn mit politischen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen verknüpft. Das Ideal einer neutralen, unabhängigen Plattform war eher eine Erzählung als eine präzise Beschreibung der tatsächlichen Struktur.
Parallel zu dieser politischen Einbettung entstand ein zweites System, das die Freiheit des Netzes nachhaltig beeinflusste: die Datenökonomie. Was als technischer Komfort begann – Cookies, personalisierte Inhalte, automatische Logins – entwickelte sich zu einem umfassenden Geschäftsmodell. Unternehmen begannen, das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer systematisch zu erfassen, auszuwerten und zu monetarisieren. Daten wurden zur Währung und gleichzeitig zur Grundlage zunehmend präziserer Überwachungs- und Steuerungsmechanismen. Der freie Zugang zu Informationen wurde damit nicht eingeschränkt, aber er wurde in ein Umfeld eingebettet, in dem Nutzerprofile, Algorithmen und wirtschaftliche Interessen massgeblich bestimmen, was sichtbar wird und was nicht.
Der Aufstieg weniger globaler Plattformen verstärkte diese Entwicklung. Suchmaschinen, soziale Netzwerke und grosse Online-Marktplätze übernehmen heute zentrale Funktionen der Informationsverteilung. Sichtbarkeit ist nicht mehr das Ergebnis eines offenen, chaotischen Austauschs, sondern das Produkt algorithmischer Sortierung. Inhalte werden priorisiert, kategorisiert und bewertet, oft ohne Transparenz darüber, nach welchen Kriterien dies geschieht. So entsteht kein geschlossenes Netz, aber ein gesteuerter Raum, in dem Nutzerinnen und Nutzer von Strukturen abhängig sind, die sie selbst kaum beeinflussen können.
Hinzu kommt die fortschreitende Fragmentierung des Internets. Staaten regulieren, blockieren und kontrollieren Inhalte; Plattformen schliessen eigene Ökosysteme; Bezahlschranken grenzen Wissen ein; und technische Standards werden zunehmend proprietär. Die ursprüngliche Idee eines globalen, für alle zugänglichen Informationsraums weicht einem Mosaik aus miteinander verbundenen, aber dennoch voneinander abgegrenzten Teilwelten. Das Netz wird weniger universell, weniger offen, weniger transparent.
Diese Entwicklung hat direkte Auswirkungen auf den Alltag. Informationssuche, digitale Bildung, politische Meinungsbildung und Alltagskommunikation finden in Strukturen statt, die nicht neutral sind. Auch Kinder und Jugendliche wachsen in einer digitalen Umgebung auf, in der Inhalte gefiltert und selektiert werden, oft ohne dass sie – oder ihre Eltern – die zugrunde liegenden Mechanismen erkennen. Digitale Mündigkeit wird dadurch zu einer zentralen gesellschaftlichen Aufgabe: Sie bedeutet nicht nur technische Kompetenz, sondern vor allem die Fähigkeit, die Funktionsweise des Netzes kritisch zu hinterfragen.
Trotz dieser Veränderungen ist der ursprüngliche Traum nicht vollständig verschwunden. Es gibt weiterhin Bestrebungen, das Internet offener, transparenter und unabhängiger zu gestalten. Offene Protokolle, dezentrale Technologien, Initiativen für digitale Selbstbestimmung und eine steigende Sensibilität für Datenschutz zeigen, dass Reformansätze existieren. Das Internet bleibt formbar – allerdings weniger aus idealistischem Enthusiasmus heraus, sondern auf Grundlage einer bewussten Auseinandersetzung mit Machtstrukturen und ökonomischen Anreizen.
Der Traum vom freien Internet ist nicht vollständig geplatzt, aber er hat seine Unschuld verloren. Er ist komplexer, realistischer und damit anspruchsvoller geworden. Was bleibt, ist die Aufgabe, die digitale Zukunft aktiv zu gestalten: mit Wissen, kritischem Denken und der Bereitschaft, sich nicht allein von Algorithmen leiten zu lassen sondern bedürfnisorientiert und wohlüberlegt zu handeln.
Belinda Kurmann
Bauchliebe.ch